Aus der Feder des Pastors 

Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott. 

Heb 13,16 

Ein Mann aus unserer Gemeinde räumte neulich bei sich im Hause auf. Unter alten un Büchern befand sich auch ein besonderer Brief aus dem Jahr 1948, den er mir zu Be lesen gab. Ein Brief, den eine verzweifelte Dame an den Großvater unseres jem Gemeindeglieds richtete. Nennen wir sie „Frau X“. Frau X lebte in einem deutschen Gla Flüchtlingslager. Nach dem 2. Weltkrieg hatten viele Deutsche ihre Heimat verloren, weil große Gebiete Deutschlands Ländern wie Polen zugeordnet wurden 

und sie als ehemalige Besitzer von Haus und Hof verjagt wurden. Um diese Flüchtlinge notdürftig aufzunehmen, wurden Lager errichtet, in denen die Geflüchteten leben konnten, bis sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatten. 

Der Inhalt des Briefes ist erschütternd. Frau X war 1945 mit ihrer Mutter und ihren 4 Kindern geflüchtet und schließlich 1946 im Flüchtlingslager untergekommen. Dort lebte sie nun schon fast 3 Jahre lang. Ihr Mann war in den Krieg gezogen – was aus ihm geworden war, wusste Frau X nicht, bloß, dass er den Russen in die Hände gefallen war. 

Lebte er noch? Würde er je wiederkehren? Im Flüchtlingslager konnte Frau X mit ihren Kindern nicht für immer bleiben – es fehlte an Kleidung, im Winter fror man erbärmlich, das Geld reichte nicht für den täglichen Bedarf, es gab keine Arbeitsmöglichkeiten und keine Aussicht auf Rückkehr in die alte Heimat. Ob die Kinder zur Schule gingen oder Unterricht empfingen, weiß man nicht. 

Dass Frau X an einen Unbekannten aus der Gemeinde Kirchdorf schrieb, kam daher, dass aus unseren Gemeinden viel für deutsche Flüchtlinge gespendet wurde. 

Man nahm z.B. große Blechdosen, säuberte sie, gab Lebensmittel
wie Reis, Dörrobst oder Zucker in Lagen hinein, versiegelte sie mit Es Bienen- oder Kerzenwachs, schraubte den Deckel zu und lötete den De dann noch luftdicht fest. 

Solche und andere Sachspenden wurden an Verwandte in Deutschland oder an Gemeinden der deutschen Schwesterkirche zum Verteilen geschickt. 

Ob Frau X Hilfe von hier bekommen hat, weiß man nicht, aber ich will es gern hoffen. Und was aus ihr und ihrer Familie geworden ist – der Herr weiß es. Aber was dieser Brief offenlässt, das ist auch bei uns offen. Auch wir haben Notdürftige um 

en uns herum, die auf Hilfe angewiesen sind – Familienglieder, Gemeindeglieder, zu Bekannte und Unbekannte. Wollen wir helfen? Der Herr spricht: Wenn aber es jemand die Seinen, besonders seine Hausgenossen, nicht versorgt, hat er den 

en Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Heide. (1. Tim 5,8) 

Der großzügige Gott versorgt uns mit den Gaben des Heils durch Jesus Christus und mit den Gaben dieses Lebens. Er gibt reichlich und gerne, so dass auch wir freigiebig sein können. Er erfülle uns mit Dankbarkeit und Nächstenliebe und gebe, dass unser Leben Zeugnis von seiner Großzügigkeit ablege. 

Euer Pastor Karl Böhmer 

Dänschendorf auf Fehmarn, Schleswig-Holstein 24b, Flüchtlingslager, den 30.8.1948MI IWBT3cUbq8p1VmOvaMwng4Q87X92ePBYi0X7tVcHsRMXeqzRJpWCbm8tmQgS78v9TUiefkiSzL2vTXgpV3Kmy86cNMAzCQ5KxyDU4e5n MUh78Qz XqLXj1d6rcsBiX964q j7UXCSn904qtTUA

Sehr geehrter Herr Y!

Sie werden erstaunt sein von einer Unbekannten aus Deutschland Post zu erhalten. Durch Zufall wurde mir Ihre Adresse genannt. Und zwar wende ich mich mit einer großen Bitte an Sie. Wir Frauen und Mütter wissen, dass dort drüben bei Ihnen sehr viel für deutsche Flüchtlinge gespendet wird. Leider haben wir hier noch nie etwas bekommen. Der größte Teil wird nur an Personen ausgegeben, die im Konzentrationslager gesessen haben, oder deren Angehörigen. Es ist wohl eine Schande, und Sie können wohl nun verstehen, wie uns noch Deutsch denkenden Frauen und Müttern zu Mute ist. Das Schicksal hat es leider auch sehr hart mit mir und meiner Familie gemeint. Ich selbst bin mit meinen 4 Kindern – heute im Alter von 6–13 Jahren – und meiner 70jährigen Mutter am 28 Juni 1945 durch die Polen von unserem Gut gejagt worden. Mein ältester Junge war damals 9 Jahre mein jüngster Junge 2 ½ Jahre alt. Die beiden Mädel liegen in der Mitte. Im Januar 1946 bin ich nach Überwindung von viel Schwierigkeiten hier in Dänschendorf auf Fehmarn im Flüchtlingslager gelande t. Von meinem Mann weiß ich leider seit März 1945 nichts. Er ist auch in die Hände der Russen gefallen. Die furchtbare Ungewissheit über sein Schicksal treibt mich manchmal bald zur Verzweiflung. Wir haben so sehr glücklich miteinander gelebt und ich kann es heute noch nicht fassen, dass alles aus sein soll. Ich habe oft übermenschliche Kräfte aufbringen müssen, dass ich meine Kinder am Leben erhielt. Wir wohnen nun hier unter den primitivsten Verhältnissen. Es ist für mich als Mutter von meinen 4 Kindern nicht leicht mich überall durchzusetzen. Leider hat die neue Währung noch viel mehr Elend gerade über uns Flüchtlinge gebracht. Nur die Hoffnung erhält uns alle aufrecht, die Hoffnung, dass unsere Heimat wieder frei wird, wir noch einmal wieder deutsch werden und unseren Kindern die Heimat zurückgeben können. Und wieder ballen sich dunkle Wolken am Horizont und wir wollen hoffen und bitten unsern Herr Gott, dass die Gerechtigkeit siegen möge. Nur all diese Gedanken und die Hoffnung geben uns unsere innerliche Stärke, beseelt von dem einen Gedanken, dass auch für uns eine bessere Zukunft kommt. 

Ich trete nun mit einer großen Bitte an Sie heran. Seien Sie bitte nicht böse über diese Zeilen, aber die Not zwingt mich dazu, es zu tun. Wir haben solch eine schreckliche Angst vor dem Winter. Meine Kinder haben nichts an warme Sachen, Strümpfe und Schuhe anzuziehen. Vielleicht ist es Ihnen möglich, mich von dort aus – es dürfen gern alte Sachen sein – zu unterstützen. Wir bekommen hier einfach keine Wolle, um für die Kinder etwas zu stricken. Ich nähe gern aus alten Sachen für mich und meine Kinder etwas. Ich hätte wohl nie geglaubt, dass ich in meinem Leben mal in eine derartige Lage kommen würde und solch eine Bitte aussprechen muss, und ich bitte Sie nochmals über meine Bitte nicht böse zu sein und meine Worte richtig zu verstehen. Ich empfange Wohlfahrtsunterstützung von der Gemeinde. Leider reicht sie bei weitem nicht hin, um auch nur den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich würde gern arbeiten, aber leider gibt es keine Arbeitsmöglichkeiten hier. Ach, es ist mir so furchtbar, dieses alles zu Papier zu bringen, aber es ist für uns alleinstehende Frauen ein einzigartiger Verzweiflungskampf. Aber in meiner großen Not hoffe ich vielleicht von Ihnen etwas Unterstützung zu haben.

Es grüßt Sie herzlich

Ihre unbekannte

Frau X