Bewegung tut dem Menschen gut. Es ist wichtig, dass wir uns körperlich bewegen. Am liebsten laufe ich zu Fuß durch die Gegend, komme auf andere Gedanken, bete, genieße den Sonnenschein, erfreue mich an Gottes schöner Natur, blicke über unser Dorf Wartburg und auf unsere schmucke Kirche. Und danach gehe ich erfrischt wieder an meine Arbeit. Nun, in einem der Erdwege, auf denen ich gehe, habe ich einen Klumpen Keramik entdeckt. Es scheint ein alter Kaffeebecher zu sein – mit abgebrochenem Griff. Wie der wohl in den Weg gekommen ist, frage ich mich. Ich stelle mir vor, dass vor einigen Jahren einer einen Kaffeebecher zur Arbeit aufs Land gebracht hat – und ihn dann aus Versehen da liegenlassen hat, am Rande des Feldes, und so geriet er in die Erde. Irgendwann musste der Weg neu planiert werden. Da wurde die Erde vom Rande des Feldes zusammengetragen, und die große Straßenhobel tat den Rest. Nach und nach kam der Kaffeebecher wieder zum Vorschein – und wurde von Fahrzeugen gekratzt und abgenutzt, sodass er nun kaputt ist. Ja, und dann stelle ich mir vor, dass der Becher reden kann. Was er wohl sagen würde? Ich stelle mir vor, er würde klagen. „Wie sehe ich aus?“ Ich stelle mir vor, er würde den Töpfer rufen, der ihn gemacht hat, und ihn fragen: „Ist das, was du von mir wolltest? Ich kann meinem Eigentümer keinen Kaffee mehr liefern, keine Freude machen, ich bin hier fest. Und was passiert nun mit mir?“
Hier spricht einer, der leidet! So auch Hiob. Ihr kennt seine Umstände, ich werde die hier nicht im Detail wiederholen. Er trauert, er leidet, ihm sind alle Mittel genommen, sein Körper ist geschunden und gekratzt, gefühlt steckt er fest in einer Lage, aus der er nicht entkommen kann. Und muss sich verteidigen gegen seine eigenen Freunde, die ihm nur schlechten Rat geben. Was macht Hiob? Er grübelt. Er betet. Er leidet. Und im Leid erkennt er einige Wahrheiten. „Adam jelud Ischah“ – der Adam, der Mensch, geboren von einer Frau, lebt kurze Zeit, begrenzte Zeit, und ist dabei wie ein Wirbelsturm, voller Unruhe und Durcheinander, Gefühle, Gedanken, Reaktionen, Umdenken. Wie eine Blume aufgeht und blüht, so auch der Adam, der Mensch, aber wie eine Blume welkt, bleibt auch der Mensch nicht. Wie bei einem Video im Zeitraffer sieht er, wie die Blume aufblüht, in der Mittagssonne dahinwelkt, und wie mit der Sonne die Schatten dahinflitzen, so auch wir. Das Leben ist kurz! Diese Perspektive dürfen auch wir wieder gewinnen. Je älter wir werden, desto schneller vergeht die Zeit. Gott lehrt uns Weisheit. In dieser Welt vergeht alles – doch Gott besteht.
Hier spricht einer, der mit Gott ringt. Als das große Leid damals über Hiob kam, sagte seine eigene Frau zu ihm: Was hältst du noch fest an Gott? Du bist wie der kaputte Becher in der Erde. Sag Gott ab und stirb. Was für Hoffnung hast du noch? Aber Hiob weigert sich, Gott abzusagen. In seinem Kaputtsein, in seinem Leid spricht er immer noch mit Gott. Aber so, wie Jakob mit Gott in der Nacht am Jabbok: Er ringt mit Gott, kämpft mit dem Glauben. Ach, Herr! ruft Hiob. Hier sitze ich Adam, ich Mensch, schau doch, wir unser Leben dahinflitzt wie ein Schatten in der Mittagssonne. Wie kannst du, der du ewig bist, denn noch als ein Richter auf uns blicken? Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Wir sind Sünder und von Sündern geboren! Wie kannst du denn von uns erwarten, dass wir dir Rede und Antwort stehen sollen für unser Leben, für diesen Hauch? Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Hiob empfindet Gottes Nähe und Gottes Blick als bedrohlich, ungemütlich, ja, unaushaltbar. „Das ist nicht fair! Wie kannst du uns richten, denen du Grenzen gesetzt hast?“ Hier spricht einer, den Gott eingegrenzt hat. Der Herr hat einem jeden von uns eine Grenze gesetzt. Alle Tage deines Lebens hat Gott in sein Buch geschrieben, bevor der erste begonnen hat. Ja, sagt der Herr, wir sollen unser Leben nicht durch Unmäßigkeit und Rücksichtslosigkeit selbst verkürzen – das können wir nämlich – aber gleichwohl hat er für jeden von uns einen Tag bestimmt, an dem er uns heimrufen wird. Wir leben in Gottes Grenzen. Aber in den Zeiten des Leides und der Not scheint es manchmal, als wenn wir nur noch Grenzen sehen und Gott nicht mehr. Wie der kaputte Kaffeebecher können wir gefühlt nichts mehr liefern, nicht mehr beitragen, und fragen uns vielleicht, wozu wir denn noch da sind. Denn das Leid grenzt uns ein, wie den Hiob hier; aber es grenzt auch aus, sodass es anderen schwerfällt, uns im Leid zu begegnen. In seinem Leid ruft Hiob, dass Gott doch bitte von ihm wegblicken möge, weil er seinen Blick, seine Nähe, seine Erwartung nicht vertragen kann. Auch wenn ich hier in der Mittagssonne liege, ruft er, lass mich doch in Ruhe, dass ich wie ein Tog-Arbeiter mich darauf freuen kann, dass irgendwann Shayile ist.
Hier spricht einer, der trotzdem hofft. Der Glaube an den lebendigen Gott bewegt Hiob doch so sehr, dass er innewird, dass der Herr nicht nur unserem Leben Grenzen setzt, sondern auch unserm Leid. Leid und Not, Grenzen und Tod haben nicht das letzte Wort. Der Herr wird auch Hiobs Not ein Ende setzen. So ist es doch auch bei dir und mir, lieber Christ. In dieser Zeit am Ende des Kirchenjahrs erinnert Gott der Herr uns daran, dass wir sterben müssen, aber er tut das, damit wir klug werden; ja, denn es kommt ein Ende aller Zeit und ein Gericht. Aber danach – DANACH! – kommt das, worauf unsere Väter und Mütter und wir gehofft haben. Daran hängt sich Hiob. Gott ist ihm nicht nur der Unbegreifliche, sondern trotz allem und nach allem auch der unbegreiflich Gnädige. Hier spricht einer, der trotzdem hofft: [14–17]
In Japan gibt es Künstler, die sich darauf verstehen, kaputtes Geschirr – Becher, Teller, Schüsseln – wieder heil zu machen. Kintsugi, so nennt sich die Kunst. Kintsugi heißt „goldene Reparatur“. Da nehmen die Künstler Scherben, waschen sie, trocknen sie, und kleben sie dann wieder zusammen. In den Lack, den sie da nutzen, mischen sie Goldpulver hinein. Stellt euch vor, dass solch ein Künstler den alten, kaputten Kaffeebecher aus dem Erdweg herausgräbt, alle Scherben sammelt, sie säubert und trocknet, und dann mit Goldlack repariert. Der Kintsugi-Künstler versteckt nicht den Schaden und die Brüche, sondern er macht sie sichtbar als Teil der Geschichte des Bechers, doch mit Gold, sodass der Becher schöner ist als zuvor. Es ist eine besondere Ästhetik, die Schönheit erkennt gerade in der Unvollständigkeit und Vergänglichkeit. Darum und darauf hofft auch Hiob. Er will und wartet, dass sein Schöpfer wieder freundlich mit ihm redet, ihn ansieht, aber nicht seine Sünden; sondern dass er seine Schuld und Übertretungen alle in einen Sack steckt und ihn versiegelt. Hiob hofft auf die Sündenvergebung als die goldene Reparatur, mit dem sein Schöpfer Hiobs Brüche und die Scherben seines Lebens wieder heil macht und schön.
Hier spricht einer, dem Gott antwortet. Hiob hofft nicht nur. Sondern Gott meldet sich tatsächlich zu Wort. Er kommt zu Hiob in seine Not und verantwortet sich selbst vor ihm. Der Herr redet, er antwortet, und Hiob hört. Gott lässt sich Zeit, Hiobs Not, Fragen und Zweifel alle anzusprechen. Das Buch Hiob ist kein leicht verständliches Buch. Alles andere. Aber dafür ist es ein Buch, das in die Tiefe geht. Und etwas mit uns macht. Deswegen haben wir es. Deswegen hören wir es. Gottes Antworten gelten auch uns. Denn schaut! Gott beantwortet Hiobs Frage ganz anders als Hiob selbst: Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? „Ja!“, sagt er. „Einer!“ Gott bleibt Hiobs Leid und deiner Not nicht fern. Er kommt mitten in unsere Unruhe und nimmt unsere Not auf sich. Wie kann ein Reiner denn von Unreinen kommen? Diese Frage hat die Kirche lange bewegt. Wie kann Jesus ohne Sünde sein, wenn doch seine Mutter eine Sünderin ist? Aha, meinte man, das geht nur, weil Maria keine Sünderin ist. Und so erfand man die Lehre, dass Maria ohne Erbsünde geboren sein soll, dass sie selbst unbefleckt empfangen worden und rein gewesen sein soll, und so konnte Jesus selbst ohne Erbsünde geboren werden. Also Maria als reine Magd. Aber das stimmt nicht. Denn dann hätten Marias Eltern selbst auch unbefleckt und ohne Sünde sein müssen. Und das waren sie nicht. Nein, Jesus ist es, der die Kette der Erbsündenvererbung bricht: Weil er nicht von einem sündigen Mann gezeugt wird, sondern vom Heiligen Geist und von einer Frau. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“, heißt es in Gal 4,4. Hier spricht einer, der den Reinen von Unreinen kommen lassen hat. Jesus wird ohne Sünde gezeugt und geboren als der neue Adam – „Adam jelud Ischah“ – der zweite Adam, geboren von einer Frau. Jesus nimmt die Grenzen dieser Welt und unseres Lebens auf sich, um uns wieder heil zu machen.
Und so wird gerade in dieser Kirchenjahreszeit unsere ewige Hoffnung in Christus hell und klar. Denn hier spricht einer, den Gott hinaus ins Weite führt. Bewegung tut dem Menschen gut, nicht wahr? Den Hiob wie dich und mich bewegt der Herr zu seiner Zeit durch die Not und aus der Enge wieder hinaus ins Freie. Er nimmt dein Leid auf sich, damit du weder ein- noch ausgegrenzt bleibst. Und er überwindet deine Grenzen, um dich in seine grenzenlose Liebe und sein grenzenloses Leben zu bringen. Siehe, ich mache alles neu!, spricht der Herr. Er heilt und verbindet nicht nur deine Wunden jetzt schon, vergibt dir nicht nur deine Schuld und bringt seine Schönheit in dein Leben wie Gold in einen Kintsugi-Becher, sondern am jüngsten Tag verjüngt der Herr dich und macht dich ganz neu. Für immer.
liturgische Farbe: grün
Festzeit: Trinitatiszeit
Wochenspruch: 2 Kor 5,10
Wochenpsalm: Ps 50
Eingangspsalm: Ps 39, Ps 90, Ps 126
Epistel: Röm 8,18-23 (24-25)
Evangelium: Mt 25,31-46
Predigttext: Lk 16,1-8 (9)
Wochenlied: 149
Erklärung zu den Perikopen:
Die biblischen Predigttexte sind aufgeteilt in die Perikopenreihen I bis VI. Jede Reihe gilt – beginnend mit dem 1. Advent – fortlaufend für ein ganzes Kirchenjahr (aktuelle Reihe = III). Die einzelnen Reihen haben verschiedene Schwerpunkte (Evangelien, Briefe usw.).
I(Evangelium): Mt 25,31-46
II: Röm 8,18-23(24-25)
III: Lk 16,1-8 (9)
IV: Offb 2,8-11
V: Jer 8,4-7
VI: 2. Kor 5,1-10
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Das Weltgericht)
liturgische Farbe: grün
Festzeit: Trinitatiszeit
Wochenspruch: 2 Kor 5,10
Wochenpsalm: Ps 50
Eingangspsalm: Ps 39, Ps 90, Ps 126
Epistel: Röm 8,18-23 (24-25)
Evangelium: Mt 25,31-46
Predigttext: Lk 16,1-8 (9)
Wochenlied: 149
Erklärung zu den Perikopen:
Die biblischen Predigttexte sind aufgeteilt in die Perikopenreihen I bis VI. Jede Reihe gilt – beginnend mit dem 1. Advent – fortlaufend für ein ganzes Kirchenjahr (aktuelle Reihe = III). Die einzelnen Reihen haben verschiedene Schwerpunkte (Evangelien, Briefe usw.).
I(Evangelium): Mt 25,31-46
II: Röm 8,18-23(24-25)
III: Lk 16,1-8 (9)
IV: Offb 2,8-11
V: Jer 8,4-7
VI: 2. Kor 5,1-10