Miserikordias Domini (Der gute Hirte) – 2025

Der Herr Jesus konnte meisterhaft reden und außerordentlich gut unterrichten. Das hören die Hörer, das sehen die Zuschauer, das berichten die Evangelisten. Zu einem großen Teil liegt das in seiner Fähigkeit, ein Bild zu nehmen, und es voll auszubeuten. Er nimmt Bilder aus der Landwirtschaft – Saat pflanzen, Reben beschneiden, Ernte einbringen, und spricht damit jeden Farmer und Gärtner an. Er redet über Investitionen, Gehälter, Schuld, und jeder Buchführer und Zöllner wie Matthäus weiß sofort Bescheid. Er erzählt vom Fischen, von Netzen, vom leer ausgehen, vom großen Fang – und die Fischermänner hängen ihm alle an den Lippen. Ihr werdet Menschenfischer sein! Und sie wissen, worum es geht.

 

Aber das mit Abstand beliebteste und vertrauteste Bild ist das vom Hirten mit seinen Schafen. Ein zartes, herzliches, ungemein trostreiches Bild ist das. Es spricht uns an, es spricht von der engen Beziehung zwischen uns und unserem Herrn – unserem Hirten, der uns als seine Herde weidet. Wenn wir an Herden in unserer Gegend denken, die im Freien weiden, dann fällt den meisten wohl das Vieh bei Milestone Kitchens ein, dem das Gras in den Schlaglöchern in der Straße süßer schmeckt als sonst wo. Aber dieses chaotische und brandgefährliche Bild der weidenden Herde entspricht nicht dem Bild, das der Herr Jesus uns vor Augen malt. Im Kontext des Nahen Ostens schlief der Hirte nicht zu Hause in der Hütte seinen Rausch aus, während die Tiere auf der Teerstraße weideten, sondern da ging der Hirte vorne dran, die Schafe hinterher. Da können über Nacht hunderte Schafe in einem Pferch eingeschlossen sein – wenn die Hirten beginnen zu rufen, kennen die Schafe die Stimmen der Hirten so gut, dass im Handumdrehen jedes Schaf bei seinem Hirten ist und ihm folgt. Über Schafe mag viel Böses gesagt werden, aber es gibt da eins, das können sie gut: Hinhören. Sie kennen die Stimme ihres Hirten.

 

Wir kennen viele Leute. Auch in unserer Gemeinde grüßen wir uns beim Namen. Aber das heißt nicht, dass wir alle gleich gut kennen. Einige kennt man nur flüchtig, andere etwas besser, und dann gibt es vielleicht eine Handvoll Leute, die dich so gut kennen, dass sie wissen, was du sagen wirst, bevor du den Mund öffnest. Und du sie auch. Wenn du verheiratet bist, weißt du, dass es eine noch tiefere Beziehung gibt, ein innigeres, vertraulicheres Sich-kennen und -erkennen. Aber die Beziehung zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen ist nochmal was anderes: Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.

 

Wie oft bewerten wir unsere Beziehung zu unserem Heiland nach dem, was wir so gerade erleben. Dinge, die uns vielleicht besonders wichtig und dringend sind, haben wir unserem Heiland im Gebet anvertraut, vielleicht wiederholt. Aber wenn die Antwort ausbleibt und er uns warten lässt, schließen wir selbst sehr schnell daraus, dass wir ihm nicht wichtig sind oder dass er uns nicht sieht, nicht mehr kennt oder gar nicht mehr kennen will. Er hat mich abgeschrieben, denken wir. Und in der Anfechtung wollen wir vielleicht auch ihn abschreiben. Lieber Christ! Dein Heiland spricht: Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich. Wie eng ist diese Beziehung? Christus sagt: wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater, SO kenne ich die Meinen, und sie mich. Kannst du dir überhaupt eine engere Beziehung vorstellen als die zwischen den drei Personen der Dreieinigkeit? Aber diesen Vergleich macht Jesus, so gut kenne ich euch, so bin ich euer guter Hirte. Er kennt euch, er weiß, was euch umtreibt, was euch besorgt, euch belastet, euch bewegt.

 

Aber dieses Bild bedeutet weit mehr als nur kennen, sondern er kennt eure Lage auch sehr gut. Und die Lage ist eben die, dass Schafe schutzlos und wehrlos sind. Wenn das Raubtier kommt, wenn der Wolf erscheint, dann fragen die Schafe oft noch lange wie Rotkäppchen nach, welch große Ohren, Augen und Zähne er hat, und im Nu hat er uns gefressen. Was wir Schafe brauchen, ist flinke Füße und einen starken Beschützer.

 

Den brauchten auch die Israeliten damals in der Wüste am Fuße des Berges Sinai. Weil es so lange dauerte und sie zweifelten, ob Mose je wieder zurückkommen würde, ob Gott sie verlassen hatte, taten sie sich zusammen und machten sich ihren eigenen Gott und sagten: Diesem Gott, diesem goldenen Stierbild, können wir vertrauen, weil es uns aus dem Lande Ägypten hierhergebracht hat. Oben auf dem Berg Sinai aber sagt Gott zu Mose: Mir steht’s bis hier! Ich will dies Volk vernichten! Sie brauchten einen Beschützer. Und was tat Mose? Er trat in die Bresche, flehte Gott an, sie um seines eigenen Namens willen nicht zu auszulöschen, sondern ihnen gnädig zu sein. Mose war ein wahrer Hirte und verteidigte jene Menschen. Jahrhunderte später, als das israelitische Heer vor Angst den Kopf einzog und zitterte, weil der mächtige Goliat sie verhöhnte, brauchten sie einen Beschützer. Wer kam ihnen zu Hilfe und leistete Beistand? Der Hirtenjunge David. Mit einem Schuss streckte er den räudigen Riesen nieder. Er war der Hirte, der für die Seinen in die Bresche trat. Der wahrhaft heldenhafte Hirte, der gute Hirte, der vor uns tritt und für uns vortritt, ist unser Herr Jesus Christus. Er lässt sein Leben für seine Schafe. Es kann kaum reicheren Trost geben als diese Worte.

 

Aber bei diesem Vergleich ist auch Vorsicht geboten. Wir sind nämlich nicht unschuldige Lämmer. Es gibt tatsächlich Böses da draußen, aber auch hier im Herzen gibt es das Böse – böse Gedanken, Neid, Zorn, Missgunst – das uns beschlagnahmen und beherrschen will. Wer schützt uns vor dieser Gefahr?

 

Das wahrhaft unschuldige Lamm, das für uns in den Tod geht. Und für uns betet. Aber dass der Hirte nun auch das Lamm ist, durch dessen Opfer unsere Seligkeit und Sieg über den Bösen erworben wird, das scheint uns ein Sprung zu sein, der zu weit geht. Da scheint das Bild an seine Grenzen gekommen zu sein. Wie kann er denn gleichzeitig Hirte und Lamm sein? Da muss ich denken an den afrikaansen Jäger in seinem Video mit Tipps für andere Jäger. „Wenn ihr hierher ins Buschveld kommt,“ sagt er, „dann macht ihr große Fehler. Ihr esst das Essen aus der Stadt. Ihr spritzt euch Deo aus der Stadt und wascht euch mit Seife aus der Stadt und putzt eure Zähne mit Zahnpasta aus der Stadt. Ihr riecht wie die Stadt. Ihr seid die Stadt. So geht das nicht. Wenn ihr im Buschveld jagen wollt, dann müsst ihr essen, was das Buschveld isst. Und ihr müsst riechen, wie das Buschveld riecht.“ Und damit wirft er sich in den roten Sand und wühlt darin und wirft sich Sand in den Mund und sagt: „Dann riecht ihr wie das Buschveld – dann seid ihr das Buschveld!“ Nun, der Herr Jesus geht da einen Schritt weiter. Ja, er wohnt bei den Schafen und geht mit den Schafen und lebt unter den Schafen. Aber mehr noch, er schützt seine Schafe, indem er selbst ein Schaf wird. Darum kennt er sie so gut. Er kommt mitten unter uns und wohnt unter uns. Er ist das Lamm, das wir alle hätten sein sollen. Er treibt uns nicht von hinten, sondern führt vorne dran. Die Schafe folgen ihm, weil sie ihm vertrauen. Sie wissen, er wird sie sicher führen. Darum folgen sie ihm auch gegen ihren Instinkt durch das finstere Tal. Er sieht den Wolf kommen und leitet dessen Aufmerksamkeit auf sich. Die Schafe fliehen; das Lamm bleibt. Und der Wolf reißt ihm Wunden in den Kopf und in die Hände und die Füße und die Seite. Seht: Der gute Hirte ist gleichzeitig das Lamm, das sein Leben lässt für die Schafe, um sie durchs finstere Tal zum ewigen Leben zu führen, durch seine Auferstehung zum ewigen Licht. Er wird die Seinen nie verlassen.

 

Aber darauf sollen wir uns nichts einbilden. Sogar damit hat der Heiland das Bild vom guten Hirten noch nicht ausgereizt. Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich. Ja, wir gehören ihm. Aber er sagt ausdrücklich: Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen. Aber nicht nur das; ganz buchstäblich heißt es hier „es ist nötig, es ist notwendig“, Gott will es so, es ist zwingend notwendig, göttlich notwendig, auch diese Schafe herzuführen, und sie werden meine Stimme hören. Und wie werden sie seine Stimme hören? Der Römerbrief antwortet: Durch die Predigt. Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?

 

Wir fragen uns vielleicht: Warum ist denn überhaupt noch Mission nötig? Haben die anderen denn nicht alle Prediger abgelehnt und die Botschaft nicht hören wollen? Ist es denn nicht Zeit, den Staub von den Füßen zu schütteln, ja, die Füße hochzumachen und mit der Mission Schluss zu machen? Wer so denkt, der denkt nicht wie Christus. Er ist nicht nur der gute Hirte für dich und für mich; er ist der gute Hirte partout auch für andere. Die Mission wird dann aufhören, wenn die ganze Zahl seiner Auserwählten voll ist; die Mission wird aufhören an dem jüngsten Tag, wenn der Hirte uns am ewig frischen Wasser lagert und auf die grüne Aue des ewigen Lebens leitet. Bis dahin ist der gute Hirte noch unterwegs in der Welt und sucht seine Schafe, die nicht aus diesem Stall sind. Sie gehen mit. Sie folgen ihm nach und tun, was sie können, dass auch andere diese Stimme hören und kennenlernen, die Predigt der guten Nachricht des guten Hirten, dass die anderen auch die Gnade empfangen, die wir empfangen haben. Und es wird eine Herde und ein Hirte werden, die singt:

 

Weil ich Jesu Schäflein bin,

freu ich mich nur immerhin

über meinen guten Hirten,

der mich schön weiß zu bewirten;

der mich liebet, der mich kennt

und bei meinem Namen nennt.

 

Amen.