Palmarum (Der Schmerzensmann) – 2021

Palmarum (Der Schmerzensmann)

„Es kämpft jeder seine Schlacht allein.“ So sprach der Dichter Schiller: „Es kämpft jeder seine Schlacht allein.“ Angesichts der immer kleiner werdenden Familien und der immer größer werdenden Anzahl Menschen, die alleine leben, der Vereinsamung unserer Gesellschaft, scheint das tatsächlich der Fall zu sein. Aber auch in einem großen Haushalt und unter vielen Menschen kann man sich alleine fühlen. „Es kämpft jeder seine Schlacht allein.“ Ist das denn nicht auch gelebte Erfahrung? Letztlich ist doch wohl jeder auf sich selbst gestellt, muss jeder mit seinen eigenen Bürden und Lasten, Sorgen und Gedanken, Versuchungen und Verführungen fertig werden, nicht wahr?

Johann Wolfgang von Goethe sagte: „Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und was Bestimmtes zu tun hat.“ Und wenn nicht? Allzu oft leben wir nicht mit uns selbst im Frieden. Und es ist doch gerade dann, wenn man mit sich selbst zu kämpfen hat, mit Schuldgefühlen beladen ist, von Sorgen bedrückt ist, und vielleicht gerade nicht was Bestimmtes zu tun hat, dass man die Einsamkeit am allermeisten verspürt. Die Frau, die mit dem Leben schlechte Erfahrungen gemacht hat und mit dem Glauben an Gott ringt. Der junge Mann, der mit einem schuldigen Gewissen sitzt. Die Teenagerin, die mit ihrem Selbstbewusstsein nicht klar kommt und nicht weiß, wohin. Menschen im Ruhestand, die sich unproduktiv fühlen oder über längst vergangene Dinge grämen. Dann kann es tatsächlich scheinen, als kämpft jeder seine Schlacht allein. Das ist gefühlt so, als wenn man ganz allein ist in einem großen, dunklen, verlassenen Stadion und einsam um die endlose Bahn rennen und über Hürden springen muss – und das mit einer zentnerschweren Last auf dem Rücken. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. „Es kämpft jeder seine Schlacht allein.“

Ja, sagt das Wort Gottes, euer Leben als Christen ist ein Kampf. Ja, ihr seid im Stadion und habt zu rennen. Und zwar auf ungewisse Zeit. Ihr wisst nicht, wann ihr endlich und endgültig über die Ziellinie lauft. Aber: Ihr seid dabei nicht allein. Und dann schaltet das Wort Gottes die großen Flutlichter an, eins nach dem andern. Der Hebräerbrief lenkt euren Blick nach oben, ins Stadion. Schaut mal genauer hin. Dort in den Rängen sitzen sie. Die Zeugen, die euch beim rennen zuschauen. Das Stadion ist nicht leer. Es ist gefüllt, ausgefüllt mit einer „Wolke von Zeugen“, die euch zuschauen. Wer sind sie, diese Zeugen? In Heb. 11,2 werden sie die Vorfahren genannt, die Gottes Zeugnis empfangen haben und vor euch im Glauben lebten. Dies bezieht sich auf die Gläubigen aus dem Volk Gottes, die zuvor schon des Glaubens wegen kämpfen mussten und – so bizarr es zuerst erscheinen mag – sogar schon längst tot waren, als die Worte unserer Lesung zum ersten Mal gehört wurden. Tot? Ja, genau. Tot. Sie werden hier teilweise mit Namen aufgeführt. Und der Hebräerbrief erinnert seine Hörer daran, dass diese Gläubigen sich nicht einfach ins Nichts auflösten, als sie starben, nicht einfach nur verblassten und verpufften, sondern, dass es sie jetzt noch gibt und dass sie auf das Ende des Rennens warten. Und dass sie euch als Zeugen bei eurem Rennen, bei eurem Glaubenskampf dienen.

Ihr habt es heute mit der ganzen Kirche Christi auf Erden bekannt: „Ich glaube an eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen…“ Wer sind sie denn, diese Heiligen, an deren Gemeinschaft ihr glaubt? Das ist doch gerade das Wunderbare: die Kirche Gottes erstreckt sich weiter, als das Auge blicken kann. Durch die Taufe, durch das heilige gemeinsame Mahl und die Teilnahme an dem einen Christus seid ihr mit allen Christen auf Erden verbunden und geeint. Und sie mit euch. Und nicht nur das, nicht nur erstreckt sich diese Gemeinschaft auf alle, die heute zu Christus gehören, sondern eben auch auf diejenigen, die zu Christus gehören, aber schon gestorben sind. Es sind nicht zwei Kirchen – die Kirche auf Erden und die Kirche im Himmel – sondern es ist eine und dieselbe, weil es nur einen Christus gibt, und weil wir mit ihm verbunden sind und durch ihn auch miteinander, ob lebend oder tot.

Heb. 11 nennt mehrere dieser gläubigen Vorfahren, dieser Zeugen, die euch im Glauben vorangegangen sind und eure Zeugen sind. Und bemerkenswert ist gleichzeitig, dass wir aus ihrem Leben im Lichte der Schrift erkennen können, was das Leben im Glauben ist, was der Glaube tut. Der Glaube an Christus lebt in der KOkuli (Das Lamm Gottes) – 2021raft Christi. Er glaubt sich durch allen Widerstand hindurch, ganz besonders gegen den Widerstand des eigenen leider oft so trotzigen und selbstsicheren Herzens. Wieder und wieder fordert der Glaube auf zum Kampf gegen die scheinbaren Tatsachen des Lebens, die sich so oft gegen Gott zu verschwören scheinen. Noah muss ein Schiff bauen, und zwar angesichts der Tatsache, dass weit und breit kein Wasser zu sehen ist und alle andern ihn verlachen und verspotten. Aber Noah glaubt Gottes Verheißung. Abraham muss sich aufmachen, sein Vaterland verlassen und in die Fremde gehen in ein Land, das Gott ihm zeigen wird. Er weiß nicht, was ihn erwartet. Er muss sich täglich ins Ungewisse hineinwagen. Aber im Glauben vertraut er darauf, dass Gott sein Wort halten wird. Ebenso Sara, die nur durch Gottes Wort schwanger werden und ein Kind bekommen kann, obwohl sie schon alt ist. Mose war bereit, gegen den Zorn des Pharao anzugehen und das Volk aus Ägyptenland zu führen, denn er hielt sich an den, den er nicht sah, als sähe er ihn (27). Das ist das Leben im Glauben, das Leben der Heiligen – es ist ein Festhalten an den Verheißungen Gottes und ein Schauen auf seine Gegenwart allein aufgrund seiner Verheißungen, auch angesichts der größten Herausforderungen.

Das ist wichtig. Das mussten die jüdischen Christen hören, an die dieser Brief zuerst gerichtet war. Sie waren des Rennens müde. Ihnen ging die Puste aus. Ihre Knie wankten und sie konnten den Druck ihrer Umwelt fast nicht mehr ertragen, den Druck, ihren Glauben ruhen zu lassen, liegen zu lassen, fliegen zu lassen. Der Hebräerbrief richtet sich an enttäuschte Christen, müde Christen, an Christen, die hofften, schon längst von allen Problemen, allem Spott und Druck erlöst zu sein, an Christen, die zunehmend dachten, es lohne sich nicht wohl doch nicht, am Glauben festzuhalten, die sich ganz allein in dem Rennen und in dem Kampf gegen die Sünde wähnten. Uns Christen heute geht es doch ähnlich. Es hat sich eine allgemeine Glaubensmüdigkeit eingestellt. Und diejenigen, die noch Christen sein wollen, fühlen oft, sie können dem Druck, den Hindernissen, dem Kampf nicht mehr standhalten. Die Last wird zu schwer; die Übermacht der Nichtchristen um uns zu stark; wir schaffen es nicht. Wenn ein jeder seine Schlacht alleine kämpft, so steht es auch jedem frei, die Schlacht – einzustellen. Aufzuhören. Nachzugeben. Aufzugeben.

Aber das ist es ja gerade. Ihr kämpft nicht allein. Das Stadion ist voll. Es umgibt euch eine Wolke von Zeugen: Noah, Abraham, Sara, Mose, Rahab, Gideon, Barak, Simson, David, Samuel, u u u. Und seitdem sind viele Zeugen hinzugekommen, in diese Wolke reihen sich die ersten Christen ein, und alle anderen, die den Lauf vollendet haben und bei Christus sind. Auch eure Eltern und Großeltern, die euch im Glauben vorangegangen sind. Schaut auf ins Stadion, schaut in die Ränge, seht sie dort sitzen und euch anfeuern. Mit diesem Bild will der Hebräerbrief nicht sagen, die toten Gläubigen umgeben euch wie eine Wolke von Geistern jetzt und hier. Nein, denn sie ruhen im Frieden der Kinder Gottes bei Gott und sind bei ihm auch wunderbar aufgehoben. Das ist es nicht! Sondern wir sollen wissen, sie haben es durch Gottes Gnade geschafft, und sie leben und bei Gott sind, wir sollen es uns so vorstellen, dass sie da sitzen, ihr Leben soll uns als Zeugnis dienen, dass auch sie nur durch Christus hindurchgekämpft und so den Siegespreis erlangt haben. [1-2a] Es ist die Sünde, die euch zurückhält und beschwert und in die Einsamkeit treibt, denn Sünde trennt euch von Gott und den Mitmenschen. Die Sünde klebt wie nasse Kleidung am Renner. Darum: Werft sie auf Christus, der sie ans Kreuz trägt – schaut, heut reitet er nach Jerusalem, um die Sünde mit sich ans Kreuz schlagen zu lassen – werft die Sünde auf ihn! Legt sie ab! Hört auf die Zeugen! Freut euch an und lasst euch ermutigen durch die Gemeinschaft der Heiligen.

Bist du des Rennens müde? Die Zeugen sagen dir: Mit Jesus geht das! Wir haben’s geschafft! Das Ziel kommt immer näher. Nicht mehr weit! Kannst du nicht mehr? Sie versichern es dir: Durch Jesus kannst du’s doch. Dazu dienen ja die Zeugen, als Vorbilder in Kampf und Sieg. Es ist ähnlich wie bei den Psalmen. Luther nennt die Psalmen das Gebetbuch der Kirche. Und er hebt sie besonders hervor weil du in den Psalmen in das Herz der Heiligen blicken kannst, in ihre Kämpfe und Schuldgefühle, aber – und das ist das Entscheidende – eben auch auf ihren Sieg durch die Vergebung in Jesus Christus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Schaut nicht auf euch selbst, sondern auf ihn. Seht, er selbst, Jesus, ist nämlich der oberste Zeuge, der allerhöchste, er ist der Sieger. Er setzt sich gehorsam dem Spott der Welt aus, er erduldet alles, sogar das Kreuz, achtet die Schande für gering, lässt sich ehren und zujubeln zu Palmarum von den gleichen Leuten, die ihn zu Karfreitag ans Kreuz brüllen werden. Warum? Für dich, für dich, um dir den Weg zu bahnen, um durch das Tod in das Leben zu gehen und dich mit sich zu ziehen. Er ist der Renner, der ganz vorn gegen den heftigsten Gegenwind rennt und hinter dem alle anderen im Windschatten bleiben können; der, der auf dem Siegespodium auf dich wartet; der, der dir schon die Hand entgegenstreckt, um dich zu sich hinaufzuziehen und dir die Siegeskrone zu überreichen. Durchs Kreuz zur Krone. [3] Mögen andere ihre Schlacht allein kämpfen: Ihr braucht es nicht zu tun. Wer mit den Zeugen kämpft, kämpft nicht allein. Wer in der Gemeinschaft der Heiligen kämpft, kämpft nicht allein. Wer mit Christus kämpft, kämpft nicht allein. Ja, und wer mit Christus lebt, der lebt auch mit sich selbst im Frieden. Und hat was Bestimmtes zu tun. Amen.

Soli Deo Gloria

Pastor Dr. Karl Böhmer


Palmarum (Der Schmerzensmann)

PALMARUM

Wochenspruch

Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Johannes 3, 14b. 15

Introitus – Nr. 26 (Matthäus 21, 9; Psalm 69, 31 u 33)

Epistel Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Philipper 2, 5 – 11

Hauptlied

Du großer Schmerzensmann 161

Evangelium

Als die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.” Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander. Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Johannes 12, 12 – 19