Ein Herz für ‚kleine‘ Menschen – Palmarum (Der Schmerzensmann) 2025

In ihrem preisgekrönten Buch „Pilger am Tinker Creek“ schreibt Annie Dillard über kleine Dinge. Annie verbringt Zeit damit, die Welt der kleinen Tiere und Pflanzen in ihrer Nähe zu untersuchen und sich über den Gott zu freuen, der alles in Bewegung gesetzt hat. Ihr 2. Kapitel trägt die Überschrift: „Schauen“. Annie unternimmt tägliche Wanderungen und beobachtet und beschreibt den Wechsel des Lichts und das Wesen des Windes, das Leben der Bisamratten und Heuschrecken, die Schönheit der gegen den Strom schwimmenden Fische und die eines Wassertropfens unter dem Mikroskop. Es geht ihr um den Sinn der Schöpfung auch und gerade im kleinsten Detail. Um Dinge, die wir nicht beachten, weil sie so unbedeutend, so klein zu sein scheinen. Aber Annie sieht sie und freut sich daran.

Kleine Dinge, die große Aufmerksamkeit bekommen. Darum geht es auch dem Propheten Jesaja. Dort spricht Gott der Vater zu seinem leidenden Knecht: „Du bist mein Knecht… durch den ich mich verherrlichen will.“ (49,3) In Kap. 9 schreibt er von diesem Knecht: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. Und in Kap. 11 „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen“. Und in 11,6 „ein kleiner Knabe wird sie leiten“. Ein neugeborener Sohn, ein Setzling an einem Baumstumpen, ein Zweig aus einer Wurzel, ein kleiner Knabe. Wer regt sich schon über solche Dinge auf? Wer regt sich über eine 10c Münze auf? Antwort: Der Prophet Jesaja.

Und wir? Nicht unbedingt. Meistens ignorieren wir die kleinen, unbedeutenden Dinge. Wir suchen viel lieber nach größeren Dingen, R100, R200, Krügerrand. Wer will schon 10c Münzen? Wir wollen das große Geld und großartige Zeiten. Wir träumen von dem großen Job mit dem großen Bonus, wir wollen das große Haus, den großen Hof. Inzwischen baut eine amerikanische Firma Motorräder mit 5,7l V8 Motor, und wenn man fragt: warum denn?, lautet die Antwort: Warum nicht? Der Mensch mag’s eben g-r-o-ß. Groß.

Selbstverständlich ist an dem Verlangen nach Erfolg, Leistung und Vorwärtskommen nichts auszusetzen. Aber die Gefahr besteht darin, derart von großen Dingen besessen zu sein, dass wir nicht mehr achten auf die kleinen Dinge, auf kleine Tage, kleine Menschen und kleine Arbeiten. Denn die Folge davon ist, dass wir dabei kleinlich werden. Kleinliche, engherzige Menschen sind darauf aus, ihr Revier zu schützen, sie erfreuen sich am Afterreden und am Lästern über andere, sie setzen andere herab, um sich selbst groß zu tun.

In der Schrift hingegen finden wir eine Vielzahl von gläubigen Menschen, die sich darüber freuen, einen kleinen Groschen zu finden. Was besaß Mose, als er mit dem Volk Israel auszog? Nur einen Stab – und mit dem besiegte er ein Königreich. Der Richter Gideon besiegt die großen Heerscharen der Midianiter mit 300 Mann, die wie Hunde aus dem Bach Wasser trinken. David braucht nur eine Schleuder und einen Stein, um den großen Goliath fertigzumachen. Und ganz vorne dran steht Jesus selbst, der sich unbändig freut über die alte Witwe, die ihren halben Pfennig in die Kollekte gibt. Der Freude hat an 5 Laib Brot und 2 kleinen Fischen. Der das Evangelium vergleicht mit der kleinsten Saat, die man damals kannte. Der den kleinwüchsigen Zachäus vom Baum holt und in sein Haus eingeht. Der die Großen beiseiteschiebt, um kleine Kinder zu herzen, und ruft: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.

Der kleine Jake war das kleinste Kind im Kindergottesdienst. Zu Palmarum gab die Lehrerin allen Kindern ein leeres Plastik-Ei mit nach Hause mit der Aufgabe, zu Ostern etwas im Ei mitzubringen, das das Osterfest symbolisiert. Sie erwartete nicht, dass Jake etwas mitbringen würde, weil er noch so klein war. Am nächsten Sonntag brachten die Kinder die Plastik-Eier wieder mit. Eins hatte eine schöne Blume ins Ei gelegt, ein anderes ein Kreuz, ein drittes einen Plastik-Schmetterling. Aber Jakes Ei war leer. Die anderen Kinder lachten ihn aus. Aber Jake sagte trotzig: „Mein Ei ist leer – wie das Grab von Jesus!“ Welch eine tiefgründige Einsicht in das Ostergeschehen – aber alle hatten es übersehen.

Gott spricht: „Du bist mein Knecht… durch den ich mich verherrlichen will.“ Gott sandte keinen Eben Etzebeth, keinen ausgewiesenen Diplomaten, keinen beredten Politiker, keinen General, keinen berühmten Schauspieler. Nein, er sandte einen Diener. Einen Knecht. Und die meisten haben ihn übersehen. Aber durch diesen Knecht, spricht Gott, will ich mich verherrlichen. Das heißt: Er soll der Welt meine Schönheit, meine Herrlichkeit zeigen.

Um Gottes Herrlichkeit, seine Schönheit zu zeigen, mussten zuerst die Dinge hässlich werden. Wirklich hässlich. In Jes 49,7 hören wir, dass der Knecht verachtet wird von den Menschen und verabscheut vom Volk. In Jes 50 hören wir, dass der Knecht wehrlos seinen Rücken darbietet denen, die ihn schlagen, und seine Wangen denen, die ihm den Bart ausraufen. Dass ihm die Spucke seiner Folterer übers Gesicht laufen wird. In Jes 52 hören wir, dass sein Aussehen, seine Gestalt so hässlich wird, dass viele Leute sich über ihn entsetzen, dass sie von ihm angewidert sind, weil sein Aussehen so viel hässlicher ist als das von anderen Menschen. Und in Jes 53,2 heißt es: Er hatte keine Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.

Das ist doch die furchtbare Ironie am Karfreitag, dass Gottes Schönheit und Herrlichkeit zur Schau gestellt wird, aber durch eine hässliche, grässliche Kreuzigung. Schau hin. Blut und Spucke sind an seinen Wangen verkrustet. Seine Lippen geschwollen und gerissen. Seine Feinde schreien ihm hämisch ins Gesicht. Seine Freunde verlassen ihn und lassen ihn im Stich. Und er hängt dort, verunstaltet, alleine, drei Stunden lang in der gottverlassenen Dunkelheit.

Was ist denn daran schön? Was ist denn daran herrlich? Der Knecht Gottes, der sich selbst zum Kehricht der Völker gemacht hat, tat das alles, weil er ein Auge für Kleines hatte, ein Herz für die Kleinen hatte. Für verlorene 10c Münzen. Für verlorene Söhne und Töchter. Er litt und blutete und starb, um dich zu finden.

Wer am Boden ist, wer leidet und mit Schmerzen lebt, wer verzweifelt in die Zukunft schaut, wer ohne Aussicht und auf der Suche ist, wer in Sünden verstrickt, mit Schulden beladen ist und auf ein Leben voller Fehler zurückblickt, der findet zu Palmarum den, der sich nach unten begeben hat, um dir auf Augenhöhe zu begegnen. Heute kommt der Erlöser nicht auf einem hohen Ross daher, sondern auf einem kleinen Esel. Und seine Augen fallen auf dich. Da wollen wir uns in die Menge zu Palmarum einreihen und ihm zurufen:

Hosianna! Komme bald, / die Verheißung zu erfüllen! / Sollte gleich die Knechtsgestalt / deine Majestät verhüllen, / so erkennet Zion schon / seinen Herrn und Davids Sohn.


Palmarum (Der Schmerzensmann)

PALMARUM

Wochenspruch

Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Johannes 3, 14b. 15

Introitus – Nr. 26 (Matthäus 21, 9; Psalm 69, 31 u 33)

Epistel Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Philipper 2, 5 – 11

Hauptlied

Du großer Schmerzensmann 161

Evangelium

Als die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.” Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander. Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Johannes 12, 12 – 19